Energiekrise, Öl- und Gasknappheit, Klimawandel und Fachkräftemangel: Die chemische Fertigungsindustrie leidet enorm unter den aktuellen Entwicklungen – auch weil die Herstellung von chemischen Produkten laut Destatis den höchsten Energiebedarf aller Industriezweige aufweist.[1] Doch die aktuellen Herausforderungen reichen noch weiter, wie uns Ronald Moll im Gespräch erzählt.
Der Geschäftsführer einer Unternehmensberatung für Supply Chain Management kennt die Chemiebranche und deren speziellen Logistikanforderungen aus erster Hand: Er hat nicht nur zwölf Jahre in der chemischen Industrie, u. a. bei Bayer und bei Dr. Oetker gearbeitet, sondern war im Bereich Logistik auch 25 Jahre in leitenden Funktionen in Industrie und Handel tätig. Im Podcast AirPlus Corporate Payment Insider gibt Ronald Moll sehr interessante Einblicke in die Welt der chemischen Industrie und plädiert für eine Digitalisierung des Zahlungsverkehrs zur Prozessoptimierung.
Hallo Herr Moll, aus langjähriger Erfahrung kennen Sie die chemische Industrie sehr gut: Vor welchen großen Herausforderungen steht die Branche aktuell?
Moll: An erster Stelle steht – wie schon im letzten Jahr – das Problem der geringen Materialverfügbarkeit, um die Produktionssicherheit zu gewährleisten. Gemeinsam mit den hohen Energiepreisen, die einige kleinere Zulieferer zu kürzeren Produktionszyklen zwingen, führt dies zu extrem engen Lieferketten. Diese sicherzustellen, erfordert ein hohes Maß logistischer Optimierung.
Hinzu kommt die hohe Komplexität, die das umfangreiche Produktionsportfolio der chemischen Industrie mit sich bringt: Mehrere Stufen des Supply Chain Managements müssen berücksichtigt und eine durchgängige Transparenz gewährleistet werden. Nur so weiß ich genau, wo mein Material gerade ist, wann ich es erhalte und in welchem Zustand es im Werk ankommen wird.
Moll: Verbundstandorte und Chemieparks bringen ganz spezielle Herausforderungen mit sich:
Aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen der Standortpartner ist der Bedarf an zentraler Steuerung besonders hoch. Das Ladestellen-Management mit einer plattformbasierten IT-Lösung ist zwingend notwendig, um ein kollaboratives Arbeiten nicht nur regional, sondern natürlich auch global sicherzustellen. Schließlich gilt es, im Sinne der Transparenz alle Transporte sowie die Materialverfügbarkeit über die gesamte Prozesskette hinweg zu berücksichtigen.
Erschwerend kommen heute nicht nur die fehlenden Transportkapazitäten hinzu, sondern auch spezielle Vorschriften für die chemische Industrie: Dazu zählen die Gefahrgut- und Gefahrstoffverordnung sowie CO2-Vorschriften. Das Thema Carbon Footprint betrifft auch die Energiebilanz, und die Bestimmungen der Behörden und der EU werden immer komplexer und anspruchsvoller.
Außerdem müssen zoll- und handelsrechtliche Aspekte berücksichtigt werden: Gerade der Krieg in der Ukraine hat uns gezeigt, wie sehr der Versand eingeschränkt ist. Ohne eine Prüfung meiner Kunden und Lieferanten kann ich keine Waren mehr versenden: Aufgrund der 9-11-Problematik – der Terrorlisten-Prüfung – muss ich auch diese einhalten und mich natürlich mit der sonstigen aktuellen Gesetzgebung auseinandersetzen. Für große Chemieunternehmen ist das kein Problem, weil sie spezielle Stabsstellen haben. Mittelständische Unternehmen müssen jedoch professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen.
Auch die Folgen des Klimawandels belasten bereits die chemische Industrie: So konnten wir im vergangenen Sommer sehen, wie der Rhein immer weniger Wasser führte. Aufgrund des Niedrigwassers konnten wir nicht – wie in der chemischen Industrie üblich – auf Binnenschiffe zurückgreifen, sondern mussten für den Transport auf LKWs ausweichen.
Dies führte wiederum zur Frage der Ladekapazitäten: Es war bereits eine Herausforderung, die Waren überhaupt rechtzeitig in die Produktion zu bringen. Dieselbe Situation ergibt sich bei Hochwasser: Dann können die Schiffe die Brücken nicht mehr passieren – und die Ware muss entsprechend umgeleitet oder auf die Schiene verlagert werden. In beiden Fällen ist ein erheblicher Aufwand der Logistikabteilung erforderlich.
Ja, und dann leidet die Branche eigentlich schon immer unter zwei Themen: Dem Kostendruck und dem Fachkräftemangel. Es gibt zum Beispiel immer noch zu wenig Lkw-Fahrer, sodass teilweise Transporte allein aus diesem Grund ausfallen müssen.
Bei dieser Vielzahl von Herausforderungen: Inwiefern sorgen digitale Lösungen in der Chemiebranche für Entlastung – speziell im Zahlungsverkehr?
Moll: Die Chemie ist eine Prozessindustrie – und im Rahmen dessen ist natürlich jeder Prozessschritt digitalisiert und ein Großteil der Prozesse automatisiert. Das Thema Zahlungsprozesse ist jedoch in vielen Fällen noch analog: Es wird immer noch mit Banküberweisung, SEPA-Transfer, teilweise auch mit Schecks gearbeitet. Ich denke, dass in der chemischen Industrie – wie auch in anderen Branchen – noch ein enormes Optimierungspotenzial vorhanden ist.
Ich kann mir sehr gut die Akzeptanz einer virtuellen Kreditkarte vorstellen, die den ganzen Zahlungsprozess automatisiert. Auf diese Weise wird eine Bestellung an einen Lieferanten mitsamt einer Kreditkartennummer übergeben, die direkt belastet wird. Der Lieferant erhält die Zahlung sofort – und kann seine Produktion anfahren bzw. den Transport durchführen.
Als Kreditkarteninhaber genieße ich zudem transparentere Zahlungen, da es einen direkten Bezug zu meiner Bestellung gibt. Es ist nicht mehr nötig, Informationen manuell nachzutragen.
Und mit einer virtuellen Kreditkarte verdeutliche ich meine Bonität gegenüber dem Lieferanten. Er kann sofort sicherstellen, dass die Waren und deren Transport gezahlt sind und die Transport- und Equipment-Verfügbarkeit deutlich besser planen.
Wir haben diesbezüglich ein sehr positives Feedback aus dem Logistikmarkt erhalten und zugleich hohes Interesse hervorgerufen. Ganz einfach, da der Einsatz einer virtuellen Kreditkarte sowohl die Liquidität als auch die Transport- und Prozessoptimierung sicherstellt.
Setzt der Einkauf bereits auf digitale Lösungen, um seine Effizienz zu steigern?
Moll: Dieses Click-to buy-Prinzip gibt es ja schon lange. Der Einkauf ist bereits teilweise digitalisiert – mit einer Reihe von automatisierten, digitalisierten Transportkontrollen und Beschaffungskanälen, wie wir sie auf Sourcing-Plattformen im B2B-Bereich sehen.
Der Einsatz digitaler Lösungen ist meiner Meinung nach auch zwingend erforderlich, um eine nur kurzfristige Verfügbarkeit – oder die Nichtverfügbarkeit von Materialien zu vermeiden. Und wie bereits erwähnt, ist beim Einsatz einer Kreditkarte das Vertrauen seitens des Lieferanten gegeben und man muss nicht umständlich auf Zahlungsvorgänge warten.
Letztlich sorgt der Einsatz einer virtuellen Kreditkarte auch für Transparenz im gesamten Zahlungsprozess. Ich kann eine virtuelle Kreditkarte spezifisch generieren und habe die Möglichkeit, meine Kosten und Kostenstellen-Rechnungen entsprechend abzubilden. Das wiederum bedeutet eine Vereinfachung und Prozessoptimierung für die Buchhaltung.
Gibt es neben der Prozessoptimierung für die Buchhaltung noch weitere Vorteile, die eine virtuelle Kreditkarte mit sich bringt?
Moll: Ja, unbedingt. Die Digitalisierung der Zahlungswege würde auch im operativen Bereich enorme Vorteile bringen, und zwar im Bereich „Release“, der sogenannten Freistellung von Containern. Stell dir vor, du hast deine Ware schon bezahlt und dein Container steht im Hafen. Aber der steht ein bisschen länger als die geplante standgeldfreie Zeit. Dann kommen zusätzliche Kosten auf Dich zu – sogenannte Standgeldkosten oder Demurrage und Detention.
Die Buchhaltung muss in diesem Fall eine Sonderzahlung leisten, damit der Container durch die Reederei freigestellt wird. Hast Du den ganzen Transport bereits mit einer Kreditkarte abgesichert oder nutzt für die nicht unerheblichen zusätzlichen Standgeldkosten eine zusätzliche virtuelle Kreditkarte, kannst du direkt über deine Ware verfügen. Der Transporteur erhält sein Equipment rechtzeitig zurück und der gesamte Folgeprozess wird entsprechend optimiert.
Kommen wir noch auf das Lieferkettengesetz zu sprechen, das am 1. Januar in Kraft getreten ist. Was hat es damit auf sich – vor allem mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit?
Moll: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hat die Aufgabe, Firmen zur Einhaltung der Menschenrechte innerhalb der Lieferkette zu verpflichten und auch umwelt- und arbeitsrechtliche Standards einzuhalten. Die Standards sind natürlich von Region zu Region unterschiedlich, – aber wichtig ist im Lieferkettengesetz, dass diese durch die Unternehmen überprüft und dokumentiert werden.
Vergessen wir nicht, dass die Nachhaltigkeit der Lieferkette einzig und allein dem Schutz der eigenen Reputation dient: Kein Unternehmen möchte in der Presse so dargestellt werden, dass es Menschen ausbeute oder sie durch die Produktion gefährde.
Das Problem der Einhaltung von Sorgfaltspflichten im Rahmen des Lieferkettengesetzes nimmt mit der Größe des Unternehmens und der Komplexität der Produktions- und Fertigungsplanung zu. Gerade in der chemischen Industrie gibt es viele Zulieferbetriebe, die wiederum andere Zulieferbetriebe hinter sich haben, welche grundsätzlich auch vom deutschen Chemieunternehmen überprüft werden müssen.
Das führt natürlich zu einem enormen Verwaltungsaufwand. Die Unternehmen müssen sich Gedanken machen, wie sie dieses Lieferkettengesetz in ihre eigenen Prozesse integrieren können. Insofern ist es sehr sinnvoll, dieses Sorgfaltspflichtgesetz in die Compliance-Organisation eines Unternehmens einzubinden.
Denn Compliance ist nichts anderes, als der Nachweis von Nachhaltigkeit. Dieser kann zum Beispiel auch mit dem Einsatz einer virtuellen Kreditkarte erbracht werden, da alle Zahlungen überprüft – und so auch versteckte Neben- und Nischenanbieter identifiziert werden können.
Diese Kontrollen müssen auch dokumentiert werden - und zwar nicht erst ab 2023, sondern für große Unternehmen bereits seit 2022. Damit verbunden ist ein erhöhtes Reiseaufkommen, da die Werke inspiziert werden müssen und man sich die Situation vor Ort anschauen muss. Bilder allein reichen für eine entsprechende Beurteilung nicht aus.
Es besteht jedoch keine Nachforschungspflicht. Wenn man eine Anlage gezeigt bekommt, sollte man schon davon ausgehen, dass dies die tatsächliche Produktionsstätte ist. Der erfahrene Einkäufer oder der erfahrene Compliance Manager wird das jedoch sofort erkennen.
Wir danken Ronald Moll herzlich für das Gespräch!
Übrigens – weitere spannende Aspekte, Trends und Updates aus der Welt des Corporate Payment bieten wir Ihnen auch als Podcast, den Sie kostenlos abonnieren können.
[1] Importance of energy-intensive industries in Germany - Federal Statistical Office (destatis.de)