E-Book: Das moderne Händlermodell
2. Kapitel: Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Reiseindustrie
Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Reiseindustrie
Die steigende Bedeutung der digitalen Präsenz im B2B-Sektor beeinflusst natürlich auch die Reiseindustrie
– und damit Reisebüros und andere als Mittler auftretende Einzelhändler, die unter anderem Leistungen wie
Flüge und Hotelübernachtungen bei Reisedienstleistern ein- und an Endkunden verkaufen.
Gerade die Reiseindustrie verfügt über ein besonders komplexes Ökosystem, das aus mehreren Ebenen und Akteuren besteht. So können Reisemittler aus zahlreichen Optionen wählen, um Buchungen für Freizeit- oder Geschäftsreisende durchzuführen, wie die folgende Grafik zeigt.
NDC
Die technischen Standards der New Distribution Capability (NDC) der International Air Transport Association (IATA) bilden die Grundlage der neuen Infrastruktur für Angebot und Auftrag. Im Wesentlichen ist der NDC ein XML-Standard, mit dem Anbieter von Airline-Services ihren Kunden sowohl umfangreiche als auch zusätzliche Leistungen anbieten können. Erweiterte Angebote sind einer der Faktoren, mit denen die Fluggesellschaften sich selbst vermarkten und ihre Marke
differenzieren können.
Der Zugang zu Kundendaten ermöglicht eine bessere Kontrolle über Preisgestaltungsstrategien. Ein Beispiel hierfür ist die dynamische Preisgestaltung, bei der verschiedene Kriterien in Echtzeit berücksichtigt werden.
Nachdem die NDC zunächst von Lufthansa, British Airways, American Airlines und Iberia eingeführt wurde, hält sie nun auch Einzug in den Vertrieb von Fluggesellschaften –neben anderen Elementen, die den Betrieb der Airlines verbessern. Heute beteiligen sich Vertreter nahezu aller Vertriebsorganisationen von Fluggesellschaften auf die eine oder andere Weise an der NDC-Initiative.
Im Rahmen einer neueren Studie der European Technology and Travel Services Association (ETTSA*) wurden elf Hauptvertriebskanäle für den Hotelbereich ermittelt. Auch die Fluggesellschaften verfügen über ähnlich vielfältige
Möglichkeiten für den Ticketverkauf.
Diese Optionen lassen sich grob in direkte und indirekte Vertriebskanäle gliedern: Zu den indirekten zählen Online- und Offline-Reisebüros, Reiseveranstalter und Travel Management Companies (TMCs). Sie agieren als Vermittler zwischen Anbietern und Reisenden.
Der Trend hin zum Direktvertrieb
Direkte Buchungskanäle werden vermehrt genutzt, wenn z. B. eine große Airline oder Hotelkette bereits als Anbieter im Markt agiert oder wenn überwiegend Inlandsreisen gebucht werden. Der Endkunde steht hierbei im Mittelpunkt – Mittler sind dabei nicht beteiligt. Und da sich die Erwartungen der Kunden kontinuierlich ändern, setzen die führenden Verbrauchermarken heute auf ein Angebot digital optimierter Erlebnisse. So stellt etwa die Finanzberatungsgesellschaft Betterment ihren Nutzern Anlageberatungsdienste direkt per mobiler App zur Verfügung. Der globale Technologiekonzern Samsung setzt bei der Weiterentwicklung seines Customer Support online auf die Unterstützung durch künstliche Intelligenz (KI).
Wie sehr der digitale Direktverkauf die gesamte Reisebranche beeinflusst, lässt sich gut am Beispiel der Digitalisierung der Fluggesellschaften aufzeigen. Als Anbieter von Reiseleistungen haben alle Airlines zwei grundlegende Bedürfnisse:
Umsatz und zufriedene Passagiere.
Die Luftfahrtindustrie hat das auf Angebot und Auftrag basierte Modell ins Leben gerufen, damit die Airlines moderner (sprich digitaler) werden. Dadurch wurde den Reiseanbietern im Einzelhandel ermöglicht, ihren Kunden ein geeignetes Maß
an Flexibilität zu bieten, um ihre Produkte zu optimieren, zu personalisieren und letztlich besser zu verkaufen.
Im Zentrum dieses Modells steht die Transformation herkömmlicher Systeme und Prozesse in eine modulare IT-Infrastruktur, die sich besser für Reiseprodukte des Einzelhandels eignet. Jeder Auftrag, der künftig über dieses System eingeht,
kann mehrere Anbieter und Produkte beinhalten. Das fragmentierte Protokollsystem für Buchungen und Ticketverkauf gehört damit der Vergangenheit an.
Es versteht sich jedoch von selbst, dass die Digitalisierung im B2B-E-Commerce die Interaktion der Unternehmen mit ihren Kunden verändert.
Indirekter Vertrieb: Der Mittler im Mittelpunkt
Da Fluggesellschaften und Reisedienstleister feste Bestandteile des Reise-Ökosystems sind, hat der kundenorientierte Fokus der NDC in diesem stärker personalisierten Ansatz auch direkte Auswirkungen auf die Mittler.
Um konkurrenzfähig zu bleiben und sowohl Reisende als auch Travel Manager in Sachen Reiseplanung, -buchung und -verkauf beraten und beeinflussen zu können, müssen Anbieter wie Online-Reisebüros, Travel Management Companies
(TMCs) und Anbieter von Freizeitreisen ebenso auf diesen Ansatz setzen. Dem Einzelhandel gehört die Zukunft. Und die Mittler, die größtenteils von Haus aus Reiseverkäufer sind, nehmen bereits eine Schlüsselrolle im Vertrieb von Reiseleistungen ein.
Ihre Vormachtstellung können sie sichern und ausbauen, indem sie eine auf breite Palette von Vorteilen für Hotels, Fluggesellschaften und andere Reiseanbieter zurückgreifen.
Zu diesen zählen:
Ausweitung des Angebots für Reisedienstleister auf geografische Märkte und Segmente, zu denen sie bisher keinen Zugang haben. Viele Reisemittler sind bestens mit lokalen Marken vertraut und daher in der Lage, Kunden in entfernten Märkten zu betreuen, deren jeweilige Anforderungen und Verordnungen sie genau kennen, z. B. in puncto Verbraucherschutz und Rückerstattungspflichten.
Unterstützung bei der Kapazitätsauslastung und der Verlagerung von
Reiseangeboten für Fluggesellschaften und Hotels durch zusätzliche
Bedarfsgenerierung als Reisemittler.
Optimierung des Buchungserlebnisses für Kunden, indem sie
Reisekomponenten in Paketen anbieten und so Cross- und Up-Selling
bei jeder Einzelbuchung ermöglichen.
Effizienter Kundensupport im Bereich After-Sales, z. B. bei
Änderungen komplexer Reisepläne, die mehrere Anbieter oder
lediglich mehrere Flugsegmente betreffen. Die große Anzahl an
pandemiebedingten Umbuchungen und Stornierungen haben
diesen Bedarf noch verstärkt, da viele Airlines nicht über die
Ressourcen verfügen, diesen Prozess selbst zu bewältigen.
Die größten Online-Reisebüros und Online-Plattformen (OTAs) verzeichneten bereits vor der Pandemie ein Reisevolumen von ca. 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Sie erzielten damit einen höheren Umsatz als die größten Fluggesellschaften. Auch die Marketingbudgets und Reichweiten der großen OTAs übersteigen die der globalen Hotelketten und großen Luftfahrtkonzerne.
Sie sind zu wahren Marketingmaschinen geworden, sodass Reisedienstleister, die mit ihnen kooperieren, sowohl die Nachfrage als auch ihr Volumen steigern können.
Schließlich tragen die Reisemittler zur Wertschöpfung bei ihren Partnern bei,
indem sie die Reichweite ausbauen, die Nachfrage ankurbeln und den Umsatz steigern.
Nutzen Reisemittler zudem das Händlermodell (Merchant of Record-,kurz MoR) – ein Konzept, bei dem sie ihre Lieferanten- und Kundenbeziehungen selbst verwalten, können sie außerdem von einem verbesserten Zahlungsmanagement bei geringerem Betrugsrisiko profitieren.
5 Hotel distribution costs, Infrata and EETSA, 2018
*ETTSA: The European Technology and Travel Services Association was established in 2009 to represent and promote the interests of global distribution systems (GDSs) and travel distributors to industry, policymakers, opinion leaders, consumer groups and all other relevant European stakeholders.
